Sommergeschichten 2025
Luisa schreibt im Sommerkurs der SCHREIBKLASSE
Das Projekt „Luisa schreibt”
Die 28-jährige Luisa schreibt mit der Unterstützung der SCHREIBKLASSE in ihrem Urlaub eine autobiografische Geschichte. Nach einigen persönlichen Rückschlägen fliegt sie spontan nach Marseille, um dort, inspiriert von der lebendigen südfranzösischen Metropole, an einer Geschichte zu schreiben. Zu Beginn ihrer Reise ist sie noch etwas verunsichert, doch nach wenigen Tagen wird sie hoffentlich den Zugang zu einer Geschichte finden, die in großen Teilen ihre eigene ist.
Ich will so schreiben wie ich bin.
Seid dabei, wenn im Rahmen des SOMMERKURSES in unserer SCHREIBKLASSE vor Euren Augen eine Geschichte in Echtzeit entsteht. Unsere Autorin Luisa wird Euch mit jeder weiteren Folge ein neues Stückchen ihrer ganz persönlichen Geschichte präsentieren. Es wird teils sehr persönlich, sodass Luisa das Pseudonym unserer Autorin ist. Wir unterstützen sie und wollen natürlich auch andere ermutigen, mit ihrer eigenen Geschichte zu beginnen. Zusammen mit Luisa werden wir die SCHREIBSTÜCKE kommentieren. So erhaltet ihr in dem Blog „Luisa schreibt” auf unserer Website viele wertvolle Tipps und könnt ganz genau nachvollziehen, wie Luisas Texte entstanden sind. Mit vielen persönlichen Gedanken unserer Autorin. Wenn das keine Lust auf eine eigene Sommergeschichte macht.
Luisas Schreibstücke
Die erste Fassung ist ein Rohdiamant
Weder Luisa noch wir haben eine genaue Vorstellung davon, was am Ende dieses Projekts herauskommen wird. Wir wissen noch nicht, wie viele Folgen es geben wird und auch nicht, wie lang die Geschichte sein wird oder ob sie überhaupt zu Ende erzählt wird. Wir werden einen Ausschnitt auf Threads und Instagram veröffentlichen. Wer möchte, liest dann weiter auf der Website der SCHREIBKLASSE. Unter der Rubrik „Luisa schreibt” findet ihr dort alles, was es von Luisa zu lesen gibt. Wir werden sie in ihrem Vorhaben unterstützen, damit ihre Geschichte auch fertig wird und sie das erreicht, wovon sie schon lange träumt. Natürlich wird aus dieser Rohfassung erst durch ein gründliches Lektorat eine richtig gute Geschichte. Doch dazu kommen wir später. Bevor es nun in einer der nächsten Folgen richtig losgeht, liest Du in den nächsten Posts, wie für Luisa das Abenteuer Schreiben mit der SCHREIBKLASSE begonnen hat.
Wir fragen – Luisa antwortet.
Bevor Luisa mit dem Schreiben beginnt, stellt sie sich die ersten drei Fragen. Ihre Antworten darauf sind der Start in das Abenteuer Sommergeschichte. Viele weitere kleine und große Entscheidungen werden in den kommenden Wochen folgen. Denn das Schreiben an einer Geschichte erfordert nicht nur viele Ideen, sondern auch unzähligen Entscheidungen, aus denen sich der Verlauf der Handlung entwickelt. Und das Beste: Du wirst es täglich miterleben.
Die Fragen:
- Warum möchtest du schreiben?
- Welche Themen sind dir besonders wichtig?
- Wenn du dich für ein Bild für deine erste Szene entscheiden müsstest: wie sieht dieses dann aus?
Luisas Antworten in kurze Sätzen:
- Aktuell möchte ich aus meinem jetzigen Leben möglichst fliehen, etwas anderes erleben. Ich habe jetzt zwei Wochen Urlaub und da möchte ich etwas erleben.
- Ich möchte mir über neue Ziele in meinem Leben Gedanken machen, meine Erlebnisse verarbeiten und mir meine Zukunft ausmalen.
- Selbstverwirklichung, Abgrenzung gegen die Interessen anderer, mich Konflikten und meinen Ängsten stellen.
Das ist Luisa: Wir stellen Dir unsere Autorin vor.
Luisa ist Ende 30, lebt in einem Hamburger Vorort und arbeitet in der Vertragsabteilung einer Krankenversicherung. Sie liest für ihr Leben gern und pendelt täglich nach Hamburg. In ihrer Freizeit besucht sie die Hamburger Bücherhallen und stöbert in den zahlreichen Buchhandlungen der Hansestadt. Dort findet sie immer wieder tolle Bücher. Am liebsten liest sie Erzählungen und Romane. Oft handeln sie von starken Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen, sich verändern und glücklich werden.
Privat hat Luisa so einiges durchgemacht. Nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund lebt sie seit einem halben Jahr in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Ganz allein, wie ihre Mutter nicht müde wird, immer wieder zu betonen. Luisa fühlt sich dort wohl. Endlich hat sie einen Ort, an dem sie sich sicher fühlt. Hier kann sie lesen und von einem glücklichen Leben träumen. Auch wenn ihr nach der Trennung langsam dämmert, dass sie froh sein sollte, dass diese Beziehung zu Ende ist, leidet sie noch immer darunter.
Fast 15 Jahre sind eine lange Zeit und dass Ralf jetzt einfach ein neues Leben mit einer anderen Frau beginnt, belastet sie. Ihre Familie und Freunde unterstützen sie kaum. Dass sie nicht wenigstens einmal in den Arm genommen wird, macht sie traurig. Luisa fühlt sich einsam und unverstanden. Doch dieser Sommer hält vielleicht etwas ganz Besonderes für sie bereit.

JETZT! – Luisas Sommergeschichte beginnt.
Luisa träumt von romantischen Orten
Eigentlich wollte ich mir nur noch ein paar schöne Fotos ansehen. Azurblaue Traumbuchten, norwegische Fjorde und malerische Gassen waren dabei. Denn wenn ich mir vor dem Einschlafen Aufnahmen schöner Orte ansehe, träume ich oft von Abenteuern, die ich an diesen Orten erlebe. Oft lese ich auch, aber gerade habe ich ein besonders spannendes Buch zu Ende gelesen. Das nächste liegt bereit, aber wenn ich jetzt damit anfange, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich mindestens für eine oder sogar zwei Stunden darin lese. Dann lieber ein paar anregende Urlaubsfotos der Accounts, denen ich folge und in wenigen Minuten bin ich im Tiefschlaf.

Georg führt eine kleine Pension in Marseille.
Ich lasse die Bilder von Stränden und paradiesischen Orten aus aller Welt auf mich wirken. Manchmal schalte ich den Ton an. Dann höre ich das Rauschen des Meeres, Palmen, die im Wind rascheln oder romantische Musik. Das beruhigt mich. Ich hatte heute einen wirklich schlechten Tag. Doch bevor ich mich wieder darüber aufregen kann, sehe ich beim Scrollen, dass Georg einen Hilferuf gestartet. Gerade, vor wenigen Minuten. Georg führt eine kleine Pension in Marseille. Jedes seiner Zimmer hat etwas Märchenhaftes. Ich folge diesem entzückenden Ort schon lange. Die Worte, die der immer lächelnde Mann in seinem Reel spricht, berühren mich. Fast ist es, als ob er sie direkt an mich richtet.

Marseille erwartet dich!
Es ist kurz nach elf als ich Georgs Video ein zweites, drittes und noch ein viertes Mal abspiele. Der Appell des etwas verzweifelt dreinschauenden Mannes mit dem schütteren Haar klingt fast verzweifelt: „Hilfe! – unsere Urlaubsunterstützung hat leider kurzfristig abgesagt.” Dann kommt sein sympathisches Gesicht noch näher an die Kamera heran. „Hast du Lust, uns in unserem kleinen Paradies zu unterstützen? Dann schreibe uns bitte so schnell wie möglich deine persönliche Nachricht und wer weiß, vielleicht sehen wir uns schon in ein paar Tagen, hier in Marseille.” Vielversprechende Bilder zeigen schöne Bilder der südfranzösischen Hafenstadt und ein romantischer Schriftzug lockt mit „Marseille erwartet Dich!”

Alltag ohne Freude
Plötzlich bin ich hellwach. Seit vielleicht zwei Jahren folge ich Georg und seinen sieben Zimmern auf Instagram. Alle sind bunt, gemütlich und vintage. Jedes seiner Fotos, die er postet, bekommt ein Herz von mir. Mein liebstes Zimmer ist das mit dem tiefliegenden Bett im Art-Déco-Stil. Kopf und Rahmen sind aus Nubukleder. Es hat sogar ein Radio im Kopfteil und sieht aus wie aus einem Austin Powers Film. Noch einmal sehe ich mir das Video an, während mir der ganze Scheiß der letzten Monate in Sekundenbruchteilen durch den Kopf geht.
Die hässliche Trennung, der Streit mit meiner Mutter und dazu mein Job, in dem ich nicht weiterkomme. Seit 15 Jahren arbeite ich am Empfang eines größeren Hamburger Verlages. Als ich mich damals um die Stelle als Verlagsassistentin bewarb, hieß es, dass sich mein Aufgabenfeld erweitern würde. Recherche und sogar Planung neuer Titel hatte mir Thomas, mein Chef, zugesagt. Doch nichts war seit dem passiert. Ich kann es kaum glauben, dass das so lange her ist. Und ich bin traurig, dass er vermutlich nie mehr in mir gesehen hatte als eine austauschbare Mitarbeiterin am Empfang. Ich zwinge mich, wieder an die schönen Zimmer zu denken.
Luisas Kommentar: Sobald mir etwas Schönes passiert, denke ich kurze Zeit später immer wieder an das, was mich in meinem Leben besonders stört. Meine berufliche Situation gehört dazu. Die Aussicht, dieser Situation spontan für zwei Wochen zu entfliehen, ist reizvoll. Das ist um so verwunderlicher, da ich alles bin, nur nicht spontan.

Das Schöne siegt
Ich weiß, dass es mir schwerfällt, mich von Dingen zu trennen. Während ich also meinen ersten Job und allerhand Ballast mit mir herumschleppe, bin ich meinen langjährigen Freund seit Januar los. Allerdings nicht freiwillig. Doch jetzt, in diesem Moment, ist das alles unwichtig. Oder auch nicht. Denn ich sehe meine Mutter vor mir. Ihre Enttäuschung und Angst davor, dass sie von mir keinen Enkel zu erwarten hat. Dass es mir im Moment überhaupt nicht gut geht, sieht sie nicht. Oder es interessiert sie einfach nicht. Und dann gelingt mir etwas, was ich sonst nicht schaffe. Ich schiebe die Gedanken an andere einfach weg. Verdränge sie aus meinem Kopf. Weil mir etwas besonders wichtig ist. Kein Zögern, ich tippe. Schreibe an Georg.
Luisas Kommentar: Mir fällt auf, wie viel Raum die Dinge einnehmen, die mich runterziehen. Der Post von Georg ist ein Strohhalm, an den ich mich jetzt klammern möchte, und zwar aktiv. Und weil ich stolz bin, dass ich mich wieder den Dingen zuwende, die mir guttun, schreibe ich das auch.

Das ist meine Chance
Ich will diesen Job. Auch dann, wenn es nur Kost und Logis geben würde. Es ist Marseille, da wollte ich schon immer einmal hin. Auch wenn ich kaum ein Wort Französisch spreche. „Hallo Georg“, so beginne ich meine Nachricht. Ich will sie möglichst schnell absenden, um meine Chancen zu erhöhen. Also überlege ich, wie ich in nur wenigen Zeilen zeige, dass genau ich diejenige sein sollte, die er schon bald vom Bahnhof abholen wird. „Ich weiß überhaupt nicht, was mich erwarten wird, aber ich bin schon lange ein Fan deiner entzückenden Zimmer. Ab morgen habe ich zwei Wochen frei und wer weiß, vielleicht kann ich ja sogar länger in Marseille bleiben. Ich habe gehört, dass diese wundervolle Stadt zaubern kann.” Schnell lese ich meinen kurzen Text noch einmal, dann drücke ich auf senden, bevor ich es mir vielleicht doch noch anders überlege.
Luisas Kommentar: Natürlich ist das der Wahnsinn. Ich in Frankreich, noch dazu als Zimmermädchen. Aber irgendetwas in mir will es versuchen und insgeheim denke ich. Entweder wird es klappen oder ich habe es wenigstens versucht.

An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Aufgeregt wie schon lange nicht, trinke ich etwas. Weit muss ich nicht gehen. Ich lebe seit der Trennung von Sven in einem kleinen Appartement, das gerade dreißig Quadratmeter hat. Sven lebt weiterhin in unserer Wohnung. Seiner Wohnung, wie er nicht müde wird, mir immer wieder unter die Nase zu reiben. Alter Mietvertrag, 84 Quadratmeter, Altbau. Weitere Details schenke ich mir an dieser Stelle. Vielleicht noch so viel: Sie kostet in etwa so viel wie mein Appartement. In zehn Jahren ist schließlich viel passiert. Nicht in meinem Leben, aber umso mehr auf dem Hamburger Mietmarkt.
Habe ich das tatsächlich getan? Ich sehe noch einmal nach, will meinen Text noch einmal lesen und bin mir sicher, dass er nicht gut genug ist. Jedenfalls nicht gut genug, um damit einen aufregenden Job zu bekommen: in einer aufregenden südfranzösischen Stadt am Meer. Sofort habe ich wieder Bilder im Kopf und Gefühle im Bauch. Es sind schöne Bilder und es ist ein angenehmes Kribbeln. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit.
Luisas Kommentar: In Momenten, in denen schöne Dinge in greifbarer Reichweite oder wenigstens im Bereich des Möglichen wittere, werde ich nachdenklich. Bevor ich mich also ganz auf die kommenden rosigen Zeiten freue, denke ich an all die Dinge, die sich wie Schlechtwetterwolken meinen Traumwelten nähern. Doch heute Nacht ist es anders und es gelingt mir, meine Zuversicht wiederzuerlangen.

Ich poste nicht oft etwas und wenn, dann mache ich mir ziemlich viele Gedanken, wie ich nach außen wirke. Meine Posts sind unauffällig, vielleicht sogar etwas langweilig. Es ist fast Mitternacht, als ich den Chat wieder öffne, um meine Nachricht noch einmal zu lesen. Doch das wird sofort zur Nebensache, denn Georg hat bereits geantwortet. Ich brauche einen Moment, bis meine Augen wieder klarsehen. „Liebe Luisa, lass‘ uns morgen gleich um neun telefonieren. Wie du weißt, eilt es bei mir. Freu’ mich, Georg.“ Mit so einer schnellen Antwort hatte ich wirklich nicht gerechnet. Georg braucht offensichtlich ganz dringend jemanden, der ihm hilft. Ich wünsche mir so sehr, dass ich dieser Jemand sein werde. Ich verabschiede mich von der Idee, jetzt noch schlafen zu können.
Mein erster Gedanke ist, dass ich um neun den Termin zur Urlaubsübergabe mit Lucy und Nils habe. Vielleicht kann ich Georg ja bitten, dass wir uns später … Stopp! Ich fasse es nicht: Da bin ich mindestens in der engeren Wahl für meinen Traumjob und dann gilt mein erster Gedanke dieser dämlichen Urlaubsübergabe. Lucy und Nils sind erst seit zwei oder drei Jahren meine Kollegen und dennoch kann ich mich nicht gegen sie durchsetzen. Ich traue mich nicht. „Ich will den Job!“, denke ich und habe das unbestimmte Gefühl, dass es eine Möglichkeit wäre, mein Leben zu ändern. Endlich und wenigstens noch bevor ich vierzig werde. Wie um mich darin zu bestätigen, sage ich es jetzt laut in mein kleines Reich hinein. Dann gähne ich und spüre, wie müde ich bin und wenig später schlafe ich in meinem ausgewaschenen rosa Pyjama ein.
Luisas Kommentar: Wieder merke ich, dass ich in besonders emotionalen Momenten Schwierigkeiten damit habe, Dinge in eine lesbare Reihenfolge zu bringen. Die schnelle Rückmeldung von Georg hat mich aus dem Konzept gebracht. Solange ich auf die Nachricht gewartet habe, war alles noch eine Idee. Ein schöner Traum, wie in einem besonders schönen Kapitel aus den Büchern, die ich so verschlinge. An deren Ende ist nämlich immer alles gut.

Es ist noch kühl, als ich mich auf den Weg nach Hamburg in den Verlag mache. Das Mehrfamilienhaus, in dem ich nach der Trennung von Sven ein bezahlbares Apartment gefunden hatte, war schon fast ein Hochhaus. Eigentlich fühle ich mich dort wohl, mir gefällt die Anonymität. Nach beinahe 10 Jahren Beziehung wollte ich einfach nur schnell meine Ruhe und die fand ich hier: Innerhalb nur weniger Tage konnte ich mit meinen wenigen Habseligkeiten einziehen. Das war keine Selbstverständlichkeit, selbst in Lüneburg. Doch jedes Mal, wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, schämte ich mich. Niemand von meinen Freunden und schon gar nicht meine Familie konnte begreifen, dass ich in so einer Sardinenbüchse, wie sie mein kleines Apartment nannten, lebte. „Du hattest doch alles, was hast du Sven bloß angetan?”

Statt getröstet zu werden, bekomme ich solche und ähnliche Sprüche zu hören. Immer und immer wieder. Hinter jedem Satz steckt ein Vorwurf und auch wenn es das Verschuldensprinzip bei Trennungen schon längst nicht mehr gab: In meiner Familie hat es unbeschadet überlebt. Besonders meine Mutter steht dabei an vorderster Front und den militärischen Vergleich wähle ich nicht zufällig. Doch jetzt sitze ich im Zug und um mich herum riecht es nach billigem Deodorant. In weniger als zwei Stunden werde ich mit Georg telefonieren. Um besser mit meiner Aufregung klarzukommen, lese ich nun doch in meinem neuen Buch.
Ich stelle mir vor, wie ich in nur wenigen Tagen darin lese, während ich in einem südfranzösischen Straßencafé sitze. Italien, denke ich und schaue dabei grinsend auf das Buch in meinem Schoß, das in Italien, nicht in Frankreich, spielt. Ich entscheide mich dafür, dass dies kein schlechtes Omen ist und lese über ein junges Mädchen, das sich im Sommer im Auftrag ihrer Eltern um einen Feriengast kümmert. Mit jeder Seite dieser herzerwärmenden Erzählung, verschlinge ich den Roman mehr. Ich habe das Gefühl, einer Reise in den Süden näherzukommen. Je mehr mir das bewusst wird, umso mehr lächle ich. Ein attraktiver Mann, der mir gegenüber sitzt, grinst zurück und so lächeln wir jetzt gemeinsam.

Everybody’s Darling
Auch wenn sich niemand außer meiner Mutter traute, es mir direkt ins Gesicht zu sagen: Allen schien irgendwie klar zu sein , dass ich es gewesen sein musste, der die Beziehung mit Sven ruiniert hatte. Dass mein Ex noch dazu aus Feigheit log, glaubte mir natürlich auch niemand. Der Everybody’s Darling, für den ich gefälligst dankbar sein sollte. Was sagte das über meine Familie und meine Freunde aus? Wie standen sie zu mir. Nach Jahren der Beziehung war Sven der Meinung, es sei an der Zeit, mich gegen etwas Frischeres einzutauschen. Er muss das schon länger gedacht haben, denn neben dem Ende unserer Beziehung präsentierte er mir seine neue und bereits schwangere Freundin. Ich spüre, wie ich mich wieder aufrege und suche den Blick meines lächelnden Mitpendlers, doch der ist weg.

Nach ein paar Seiten italienischer Leichtigkeit lege ich das Buch wieder beiseite. Während ich kritisch meine Beine mustere, kommen mir Franzis Worte in den Sinn. „Dieser Mistkerl, hat er dich einfach gegen eine jüngere eingetauscht!”
Eingetauscht trifft es ja eigentlich nicht ganz, denn wenn etwas getauscht wird, dann wechselt der Besitzer. Er hat nicht beides gleichzeitig. Sven hatte mich also nicht eingetauscht, als er sich mit der jungen Mona vergnügte. Nein, mein Lebensgefährte fuhr einfach ein halbes Jahr zweigleisig. Abgesehen davon, dass man Menschen nicht besitzen sollte. Den vielleicht größten Schmerz bereitete mir die Tatsache, dass er es nicht einmal mehr für nötig gehalten hatte, sich irgendwie zu erklären. Ich war ihm scheinbar völlig egal. Noch wenige Minuten und ich würde den Verlag betreten und nun war ich richtig wütend. Genau die richtige Stimmung, um meinen Kollegen klarzumachen, dass ich um neun Uhr den Konferenzraum ganz für mich brauchen würde. Plötzlich freue ich mich auf das bevorstehende Gespräch mit Georg.

Noch immer mit einer ziemlichen Wut im Bauch betrete ich das moderne Verlagshaus. Heute stelle ich mir ausnahmsweise mal nicht vor, wie ich den Aufzug in eine der höheren Etagen nehme. Oder besser die Treppen, wenn ich an meine Beine denke, mit denen ich nicht wirklich glücklich bin. Ich stelle fest: Nachdem ich nicht daran gedacht habe, tue ich es nun doch. Am Empfang sitzt bereits Lucy und dass sie erst zwei Monate im Verlag arbeitet, merkt man ihr nicht an. Im Gegenteil, sie wirkt, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte.
Bevor ich mich von so viel Professionalität noch runterziehen lasse, richte ich mich auf, streiche mir die halblangen nussbraunen Haare aus dem Gesicht und baue mich vor ihr auf. Ich habe mir vorgestellt, dass der Empfang zwischen uns Distanz schafft. „Guten Morgen, Luisa”, sagt Lucy monoton und ohne dabei aufzusehen. Ich lasse mich nicht beirren und antworte für meine Verhältnisse ungewöhnlich bestimmt. „Hallo, ich werde um 9 für eine halbe Stunde im „Thomas Mann” verschwinden. Du wirst deine Pause danach oder davor machen müssen.” Ich warte ihre Reaktion nicht ab, schließlich war das keine Frage und freue mich darüber, wie gut sich diese kleine Aktion anfühlt.

Unsere Konferenzräume sind nach bekannten Literaturgrößen benannt. Der „Thomas Mann”-Raum gehört nicht zu meinen Favoriten, doch wie viele andere geflüchtete Schriftsteller auch, lebte er eine Zeit lang in Sanary sur Mer. Also gar nicht weit weg von Marseille. Vielleicht glaube ich ja doch ein bisschen an die Kraft der Symbole. Oder aber ich möchte jede Gelegenheit nutzen, mich intensiv auf mein Gespräch mit Georg vorzubereiten. Ich bin nervös und muss mich zwingen, die verbleibende Zeit mit Vorbereitungen für meine spätere Urlaubsübergabe an Lucy zu verbringen. Meine Konzentration ist miserabel und zwischendurch sehe ich mir immer wieder Bilder von Marseille und Georgs Auberge des Amis an. In unserem Job am Empfang gibt es nur wenige Aufgaben, die mit uns persönlich zu tun haben.
Lucy, Nils und ich betreuen dieselben E-Mail-Adressen und somit ist jeder von uns immer über alles im Bilde. Wären wir kein Verlag, sondern ein hippes Start-Up, gäbe es unsere Jobs vermutlich längst nicht mehr. Ich zwinge mich, meine Erwartungen an das Gespräch zurückzuschrauben und überlege, wie ich die kommenden zwei Wochen zu Hause in Lüneburg gestalten werde. Dann ist es soweit. Kurz vor neun und ich gehe in den recht kleinen Raum, die Luft ist stickig. Ich öffne ein Fenster und freue mich über das laute Vogelgezwitscher. Eine Kolonie Spatzen hat in dem benachbarten alten Haus ihre Nistplätze. Wie so oft fühle ich mich in dem modernen Verlagshaus fremd. Doch bevor ich meinen Gedanken weiter nachgebe, klingelt mein Smartphone. Das Logo der Auberge des Amiserscheint auf dem Display. Lila Schrift auf blauem Hintergrund – ich freue mich.

Marseille? Ja, ich will!
„Bonjour, Luisa!” Mein erster Gedanke ist, ob ich vielleicht vergessen habe, zu erwähnen, dass ich keinen einzigen Satz Französisch spreche. Der Zweite: Georgs Stimme ist so freundlich und warm, dass ich mich in seiner Gegenwart augenblicklich wohlfühle. „Alors, ich freue mich sehr, dass wir so schnell miteinander sprechen können.” Georg unterhält sich auf Deutsch mit mir, ich bin erleichtert. „Hallo, ja, ich freue mich auch sehr und bin etwas aufgeregt.” Das ist ziemlich untertrieben, denn ich kämpfe damit, mein Smartphone ruhig zu halten. „Luisa, ich möchte es kurz machen, weil bei mir wirklich die Hütte brennt. Im Moment muss ich alles alleine stemmen, denn heute Morgen hat sich auch noch meine zweite Mitarbeiterin krankgemeldet und das, wo alle Zimmer ausgebucht sind.”
Georg wirkt müde und hat sich seit ein paar Tagen nicht rasiert. „Magst du mir ein paar Worte zu dir sagen und vor allem, was denkst du, was dich in Marseille erwartet?” Ich erzähle ihm kurz, was ich beruflich mache und dass ich ab heute zwei Wochen Urlaub habe. Ich verschweige Georg nicht, dass mein Leben im Moment dringend eine Veränderung vertragen könnte. Ich erwähne auch, dass ich schon oft in der Gastronomie und auch für mehrere Monate in einem Hotel gearbeitet habe.
Georg ist ein aufmerksamer Zuhörer und ich spüre, wie sehr mir das in meinem Leben fehlt. Jemanden zu kennen, der mir einfach nur zuhört, wenn ich über etwas reden möchte. Die 15 Minuten, die unser Gespräch bis jetzt dauert, vergehen wie im Flug und plötzlich höre ich Georg sagen: „Ich buche für dich morgen früh eine Verbindung mit dem Zug, dann bist du am späten Abend hier bei mir in Marseille, wie klingt das für dich?”
Stille. Mir sitzt ein dicker Kloß im Hals und ich muss an meine Tante Rosemarie denken. Sie lebt in Bayern und macht jedes Mal klebrige Klöße, wenn ich sie besuche. „Ja, ich will”, sage ich und sofort ist mir das ziemlich peinlich. Doch Georg lacht herzlich und sagt, dass er mir gleich alles per Mail zuschicken wird. Ja, ich will, denke ich wieder und kann kaum glauben, dass ich in bereits morgen in Marseille sein werde.

MARSEILLE – Das ist ganz allein mein Plan
Einen französischen Satz kenne ich doch. Und er fällt mir jetzt ein, nachdem Georg und ich uns so herzlich verabschiedet haben. Fast als ob wir gute Freunde wären. Je veux d’l′amour, d’la joie, de la bonne humeur. Er stammt aus einem meiner Lieblingslieder. Gesungen wird es von der französischen Sängerin Zaz und übersetzt bedeutet er: Ich will Liebe, Freude, gute Laune. Ich spüre gerade von allem etwas. Während mich diese Glücksgefühle überkommen, erschrecke ich, wie ungewohnt sich das anfühlt. Es muss sehr lange her sein, dass ich so empfunden habe. Doch jetzt ist nicht die Zeit, um zu grübeln.
Wie auf Wolken kehre ich an den Empfang zurück. Lucy sagt irgendetwas, doch es erreicht mich nicht. Mir gehen so viele Dinge durch meinen Kopf. Spontaneität gehört eigentlich nicht zu meinen Eigenschaften und oft genug hat sich mein Umfeld darüber lustig gemacht. Ich wundere mich darüber, dass ich null Bedürfnis habe, meine Familie und Freunde über meine Pläne zu informieren. MARSEILLE – Das ist ganz allein mein Plan, denke ich und dann ist die E-Mail von Georg auch schon da. Im Anhang mein Ticket. Abfahrt in Hamburg 9:29 und Ankunft Marseille-St-Charles um 21:46. Morgen um diese Zeit sitze ich in einem Zug nach Südfrankreich. Schnell mache ich mir eine Liste mit Dingen, um die ich mich heute noch kümmern muss. Und Morgen? Da wird mich Georg vom Bahnhof abholen.

„Mit dem Zug nach Marseille, bist du denn völlig bescheuert?” Während sogar Georg meine Freude am Zugfahren in meinen Insta-Posts nicht entgangen ist, scheint meine beste und einzige Freundin sogar vergessen zu haben, dass ich unter Flugangst leide. Zugfahren ist daher so etwas wie ein Hobby von mir. Je länger und weiter, desto besser. Eigentlich wusste Jessy das. Vielleicht habe ich sie auch überrumpelt. Wäre nicht die Frage nach dem Warum viel naheliegender? Also die Frage, wie um alles in der Welt es zu dieser sehr spontanen Reise in den Süden kommt? Stattdessen ist sie kurz angebunden und wimmelt mich ab.
Vielleicht denkt sie auch, dass ich es vor ihr geheimgehalten habe, um sie am Mitfahren zu hindern. „Na gut, dann halt nicht”, denke ich und rufe bei meinen Eltern an. Mein Vater meldet sich und ich atme auf. Das Gespräch ist kurz, er freut sich für mich und überlegt, wie lange es her ist, dass er in Marseille war. Ziemlich leise sagt er dann, dass es noch vor der Zeit mit Mama gewesen sein muss. Einen Moment ist es still, ich bitte ihn, meiner Mutter zu sagen, dass ich mich melden werde und beende das Gespräch.
Ich habe noch nichts gepackt. Für jemanden wie mich, der fast immer mindestens eine Woche vor Antritt einer Reise mit dem Packen beginnt, fühle ich mich ziemlich entspannt. Noch während ich darüber nachdenke, woran das wohl liegt, erinnert Lucy mich ziemlich unsanft daran, dass die Mittagspause vorbei ist und wir endlich die Übergabe machen sollten. Noch zwei Stunden und ich kehre diesem Laden für zwei Wochen den Rücken. Ich atme tief durch und stelle mir einen Moment vor, wie es wäre, wenn ich nach beinahe 15 Jahren nicht mehr in den Verlag zurückkehren würde. Ich würde nichts vermissen.

Als ich um kurz nach zwei den Verlag in der Hamburger Innenstadt verlasse, sind meine Gedanken bereits ganz woanders. Lucy, Stefan und Nils und ihr heute besonders abweisendes Verhalten spielen keine Rolle. Normalerweise hätte mir das ziemlich zugesetzt, ich würde den Fehler bei mir suchen und darüber grübeln. Zuhause angekommen, werde ich meinen Trolley leer räumen und ihn auf mein Bett legen. In dem Koffer befinden sich noch zahlreiche Gegenstände, die mich an meine Zeit mit Sven erinnern. Genau aus diesem Grund habe ich es bisher vermieden, ihn überhaupt zu öffnen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie wunderbar, dass ich im Moment gar nicht an meinen Ex denken muss.
Während des Vormittags habe ich mir eine Liste mit Dingen gemacht, die ich noch besorgen werde. Obwohl ich so wenig spontan bin, reise ich ziemlich unkompliziert. Schließlich bin ich nicht auf dem Weg in die Wüste und alles, was ich benötige, werde ich auch in Marseille bekommen. Es ist fast fünf, als ich damit anfange, Wäsche in den geräumigen Trolley zu verstauen. Bevor ich an die vielen Urlaube denke, auf die mich das braune Ungetüm gemeinsam mit Sven begleitet hat, überlege ich, was in meiner Wohnung noch zu tun ist. Außer, dass ich die Fenster schließen und vielleicht das Wasser abstellen sollte, fällt mir nichts ein. Mein Briefkasten ist groß genug und irgendwelche Zimmerpflanzen habe ich nicht. Manchmal zahlte sich mein Zögern eben doch aus, denke ich und bin dabei nur wenig überzeugt.
Die Anschaffung von Grünzeug, das länger lebte, hatte ich nach der Trennung bisher vermieden. Gut so, denn für die müsste ich jetzt jemanden finden, der sie gießen würde. Natürlich könnte man das auch anders betrachten: Wenn ich ein paar Freunde hätte, dann wäre das überhaupt kein Problem. Doch das war ein heikles Thema, denn die Freundschaften oder vielmehr das, was ich dafür gehalten hatte, waren mit der Beziehung zu Sven in die Brüche gegangen. Auch ein Grund, warum ich mich so sehr auf die kleine Auszeit freue. MARSEILLE bedeutet Veränderung.

23.08.2025 8:12, Hamburg Hauptbahnhof
Natürlich war die Nacht kurz, mein Schlaf unruhig und natürlich war ich viel zu früh in Hamburg am Bahnhof. Wenn ich schon nicht schlief, konnte ich auch einen früheren Zug nehmen. Die Regionalzüge in die Elbmetropole fielen manchmal aus und das Letzte, was ich wollte, war, dass ich in Frankfurt meinen Anschluss nach Marseille verpassen würde. In wenigen Stunden stieg ich dort in den TGV ein, der mit mir in knapp acht Stunden ans Mittelmeer brausen würde. Vielleicht war ich leicht zu beeindrucken, aber ein Zug, der die gut 1000 km in so kurzer Zeit zurücklegen konnte, hatte meinen Respekt. Nahm man nur die Strecke, die er in Frankreich zurücklegte, wurde es noch beeindruckender.
Ich kaufte mir einen großen Cappuccino und ein Croissant. Morgen würde ich doch tatsächlich ein Französisches bekommen.Der ICE1083 fährt pünktlich auf Gleis 11 ein. Es quietscht laut und die wartenden Menschen werden unruhig. Georg hat mir einen Fensterplatz reserviert. Wie lieb von ihm. Ich setze mich, genieße die noch ruhige Atmosphäre in dem frisch eingesetzten Fernzug. Gedämpfte Stimmen, ein eigenartiger Geruch aus Essen und Deodorants, der sich aus vielen Reisenden der jüngsten Vergangenheit gebildet hat, umgibst mich. Wie spannend es doch war, dass Menschen in Zügen zu allen möglichen Orten gelangten, aus den verschiedensten Gründen. Wenig später geht es los. Als ich den Bahnhof verlasse, sehe ich die Deichtorhallen, das SPIEGEL Gebäude und wenig später die Elbe ein letztes Mal. AU REVOIR, HAMBOURG.

…und Abenteuer gibt es doch
Plötzlich ist alles anders. Mein Job weit weg und sogar an Sven denke ich im Moment nicht. In meinem Kopf tut sich was, ich fühle mich erfrischend wach. Kaum ist der Zug an Harburg vorbei, nimmt er Fahrt auf. Auch mein Leben fühlt sich mit jeder Minute anders an. Nach langer Zeit habe ich endlich wieder einmal das Gefühl, dass ich nicht bloß bei anderen beobachte, wie sie ihr Leben gestalten, neue Dinge ausprobieren und glücklich sind. Mit einem Mal habe ich selbst eine Chance, die Schwere und den Stillstand in meinem Alltag loszuwerden. Die erste Hürde habe ich genommen und das fühlt sich unbeschreiblich gut an. Auf dem Weg nach Frankfurt ziehen Landschaften an mir vorbei.
Grüne Wälder, vertrocknete Wiesen, Schafe und Kühe auf Weiden, die in Tälern oder an sanft ansteigenden Hängen grasen. Ein halb leerer Stausee mit ein paar Graureihern, die vermutlich kleinen Fischen und Fröschen nachstellen. Aus der Ferne wirkt alles friedlich und intakt. Ich möchte daran glauben, dass es das auch ist. Wenigstens für einen Moment. Das tut mir, die meist zu eher pessimistischen Einschätzungen neigt, auch mal gut. Wie schnell das alles ging, denke ich, und dass ich noch immer keine Ahnung habe, was alles auf mich zukommt. Dann denke ich an Georg und daran, dass mir das kurze Telefonat so viel Geborgenheit vermittelt hat, dass ich unerwartet entspannt bin. Ich schreibe Georg eine Nachricht, dass ich unterwegs bin, bedanke mich und füge hinzu, dass ich mich sehr freue. Dann lehne ich mich zurück und grinse glücklich in die vorbeifliegende Welt da draußen. Sie ist noch immer in Ordnung, sehr sogar.

Wahnsinn, das war ja erst gestern.
Im Frankfurter Hauptbahnhof klappt alles. Der TGV steht majestätisch an Gleis 20 und ist bereit zur Abfahrt. Ein Traum von einem Zug. Ohne Probleme finde ich meinen Fensterplatz. Ein bequemer Sessel mit Blick in Fahrtrichtung. Das weiß ich zu schätzen angesichts der zu erwartenden Geschwindigkeit. Langsam verlässt der train à grande vitesse den Bahnhof und nach gut zwei Stunden überqueren wir den Rhein und erreichen Frankreich. Ich überlege, wann ich das letzte Mal im Ausland war: Kroatien, im letzten Sommer und natürlich noch mit Sven. Zwei wundervolle Wochen voller Sonne, Salz auf unserer Haut und gutem Essen.
Ich bilde mir ein, dass wir sehr glücklich waren. Beide. Doch kurze Zeit später muss er die Neue kennengelernt haben. Oder vielleicht lief sogar schon vorher etwas. Sven hat sich nicht die Mühe gemacht, mir die neuen Umstände zu erklären. Schluss mit mir und alles neu mit Fenja. So heißt seine Neue, die erst Ende zwanzig ist. ‘Schluss jetzt’, denke ich und zwinge mich an etwas anderes zu denken. Ich freue mich über die französische Durchsage im Zug. Gleichzeitig erschrecke ich, denn ich verstehe rein gar nichts von dem, was die charmante Stimme erzählt. ‘Wirklich eine wunderschön klingende Sprache’, geht es mir durch den Kopf.
Georg hatte mild gelächelt, als ich ihn in unserem Gespräch nochmals darauf hinwies, dass ich nur ein holpriges Englisch spreche. „Mach’ dir keine Sorgen, die meisten unserer Gäste kommen aus Deutschland, der Schweiz oder Österreich.” ‘Unserer Gäste’, wiederhole ich seine Worte in Gedanken und freue mich, denn dieses ‘Uns’ schließt mich mit ein. Gerade jetzt tut mir dieses Miteinander gut und sofort fallen mir Jessys abschätzigen Worte wieder ein. Bevor es dunkel wird, passieren wir Strasbourg, Besancon und schließlich Lyon. Nach Lyon hält der Zug nur noch in Avignon und Aix-en-Provence.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken daran, dass ich die wunderschöne Landschaft der Provence auf meinem Rückweg bei Tageslicht sehen werde. Dann denke ich, dass das ziemlich absurd ist, denn schließlich werde ich in den zwei Wochen genug Zeit haben, um Ausflüge in die Provence zu unternehmen. Ich spüre, dass mir gerade alles etwas zu viel ist. ‘Lesen!’, denke ich und hole mein neues Buch hervor, mit dem ich gestern auf dem Weg ins Büro angefangen habe. ‘Wahnsinn’, geht mir durch den Kopf, ‘das war erst gestern.’ Dann tauche ich in die Leichtigkeit des italienischen Sommerromans ein.

MARSEILLE – Je suis là!
Als wir Aix-en-Provence erreichen, sehe ich im Licht die ersten Palmen. Mir wird bewusst, wie weit weg ich von zu Hause aus bin. Sicher riecht es da draußen nach Pinien und man hört das laute Singen der Zikaden. Vermutlich wird mich niemand aus meiner Familie in den nächsten zwei Wochen vermissen. ‘Man, hörst du dich armselig an’, geht es mir durch den Kopf. Kurz nach der Trennung von Sven hatten wir einen sehr engen Kontakt, meine Eltern, mein Bruder und ich. Doch ihre Geduld mit mir und meiner zugegebenermaßen nervenden Niedergeschlagenheit war schnell zu Ende. Bevor der Zug wieder anfährt, sehe ich noch einmal hinaus auf die Palmen, freue mich und beschließe, in den kommenden zwei Wochen mehr an mich zu denken. Ich will herausfinden, was mich ausmacht und woran ich Freude habe. Im besten Fall bekomme ich eine Vorstellung davon, wie ich in Zukunft leben möchte.
Wieder lese ich in meinem Buch. Außer mir ist noch eine kleine, versprengt um mich herum sitzende Gruppe schwäbischer Kulturreisender mit im Großraumabteil. Viele von ihnen sind ebenfalls vertieft in Bücher, manche unterhalten sich leise. Die Stimmung ist ruhig und angenehm. Ich fühle mich fast etwas zu Hause und obwohl wir nur für ein paar Stunden dasselbe Reisemittel teilen, bin ich den interessierten Mitreisenden in diesem Moment besonders nah. Es ist kurz nach halb zehn, als der Zug mit einem sanften Ruckeln seine Geschwindigkeit spürbar drosselt. Draußen wird es durch die vielen Industriegebiete und Vororte immer heller. Auf meinem Smartphone verfolge ich, wie weit es noch bis zu unserem Zielbahnhof ist. In den zahlreichen Tunneln verliert sich das Signal, doch wenig später springt der blaue Punkt auf meinem Display gleich ein ganzes Stück weiter.
‘Mesdames et Messieurs…’, die charmante Stimme kündigt unsere Ankunft an. Meine bis eben noch so ruhigen schwäbischen Mitreisenden werden unruhig, klauben ihre Sachen zusammen und stehen nur wenig später erwartungsvoll im Gang. Auch ich verstaue meine Trinkflasche und mein Buch, mit dem ich mich länger als gedacht vergnügt habe, in meiner geräumigen Handtasche. Anders als sonst habe ich kaum auf mein Smartphone geschaut. Ich spüre, wie gut mir dieses Abenteuer schon jetzt tut. Dann hält der Zug und ich lese auf den Bahnhofsschildern ‘Marseille-Saint-Charles’. Ich atme tief ein und aus, bevor ich den klimatisierten Wagen verlasse. Wir stehen außerhalb des ansehnlichen Bahnhofgebäudes. Fast hüpfe ich in den aufregend duftenden und sommerwarmen Abend. Marseille – Ich bin da. Je suis là!

Simone und ich werden uns gut verstehen.
Ich will alles in mich aufsaugen. In jeder freien Minute jeden Winkel dieser pulsierenden Stadt entdecken. Ja, genau diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, obwohl ich gerade einmal mit beiden Füßen auf südfranzösischem Boden angekommen bin. Ich bin gerade einfach nur glücklich. Fühle mich unbeschreiblich frei. Diese Stadt scheint bereits zu meinem Sehnsuchtsort geworden zu sein, noch bevor ich etwas von ihr gesehen habe. Ein Vertrauensvorschuss, dessen sie sich erst noch als würdig erweisen muss. Ich grinse, wie schon ziemlich oft heute.
Georg! Fast habe ich vergessen, weshalb ich überhaupt hier bin. Ich beeile mich, gehe den langen Bahnsteig in Richtung Bahnhof und bestaune den TGV ein vorerst letztes Mal. Fast bin ich etwas enttäuscht, dass Georg mich nicht am Zug in Empfang genommen hat, da sehe ich, dass Drehkreuze den Zutritt zum Bahnsteig verhindern. Meine Schritte werden schneller, schließlich will ich nicht den Eindruck machen, ich sei langsam oder unmotiviert. Die Szenerie wirkt so unwirklich auf mich. Von einem Tag auf den nächsten stehe ich auf einem französischen Bahnhof und werde von einem Mann abgeholt, den ich nicht kenne, für einen Job, über den ich auch nichts weiß. Alles, was ich weiß, habe ich aus den Posts der Auberge des Amis. Ich sehe, wie jemand mit beiden Armen winkt und höre meinen Namen. Aber es ist nicht Georg, sondern eine junge Frau, freundlich lächelnd, mit schwarz glänzendem, langem Haar.
Einen Moment zögere ich, weil mein Name, so wie sie ihn ruft, sich so schön anhört. Wie Louise, nur mit einem sehr kurzen, aber kräftigen à am Ende. Sicher erkennt sie mich von meinen Posts, die Georg ihr gezeigt hat. In einem sehr charmant klingenden Deutsch stellt sie sich mir als Simone vor. Sie drückt mich fest und herzlich an sich. Wie gut ihr Eau de Toilet duftet, ich muss an Zitronen denken und daran, dass Georg Simone sicher absichtlich geschickt hat, damit mir die Ankunft leichter fällt. Simone und ich werden uns gut verstehen, da bin ich mir sicher.

Georg hat sein berühmtes Ratatouille gekocht.
Wenn ich eine attraktive Französin beschreiben sollte, dann wäre Simone das klischeehafte Vorbild. Wir tauschen ein paar Nettigkeiten aus, dann lehne ich ab, als sie mir anbietet, mein Gepäck zu tragen. Simone grinst mich an und sagt in ihrem süßen Akzent, dass ich trotz der langen Anreise sehr glücklich wirke. Wir nehmen den Ausgang in Richtung Altstadt und stehen endlich auf dem großen Vorplatz, von dem aus man einen wunderbaren Blick über die Stadt hat. Seit ich der Auberge des Amis auf Instagram folge, ist dieser Platz ein Etappenziel. Hier beginnen Abenteuer, meine Abenteuer.
Vis-à-vis und fast auf Augenhöhe leuchtet die Notre-Dame de la Garde, das Wahrzeichen der Stadt. Simone gibt mir einen Moment. Vielleicht hat Georg ihr von diesem Wunsch erzählt. Ich atme die Geräusche ein. Autohupen, Musik und in der Ferne ein Flugzeug, das landet. Dann bin ich so weit. Simone hat einen älteren und ziemlich verbeulten Citroën Berlingo unterhalb des Bahnhofs geparkt. Wir fahren nur wenige Minuten, bis wir die Pension in der Rue Guy Môquet erreichen. Durch eine schmale Einfahrt erreichen wir einen Innenhof, in dem es unerwartet ruhig ist.
Über dieses Viertel würde jeder aus meiner Familie die Nase rümpfen. Es befindet sich gleich in der Nachbarschaft des Marche des Capucins, ein Markt, auf dem es Obst und Gemüse gibt und allerlei Trödel. Er ist das Herz des Noailles, das ich nur von Bildern kenne. Die Stadt gleicht einer riesigen Müllkippe und Simone deutet auf ein paar Männer, die sich rauchend vor ihren Fahrzeugen unterhalten. Die städtische Reinigung bringt sich in Stellung, um die Spuren des Tages zu beseitigen. Simone schließt das Tor zur Straße, irgendwo schreit ein Baby und Kochtöpfe klappern. „Hast du Appetit?”, fragt Simone, während wir die schmalen Treppen in die vierte Etage nehmen. Im Flur duftet es nach frisch gekochtem Gemüse. „Georg hat sein berühmtes Ratatouille gekocht.” ‘Das Klischee lebt’, denke ich und dass ich wirklich Appetit habe.

Non, je ne regrette rien.
In den folgenden zwei Stunden befinde ich mich in einer ungewohnten Situation. In meinem Alltag vermeide ich einen engen Kontakt mit anderen. Besonders natürlich zu Menschen, mit denen ich nicht vertraut bin. Die vielen neuen Eindrücke, die jetzt auf mich einwirken, fordern mich heraus. Doch erstaunlicherweise geht es mir gut, ich fühle mich schon jetzt sehr wohl, obwohl wir gerade erst die Wohnung im vierten Stock betreten. Je mehr Simone und ich uns der Küche nähern, umso köstlicher duftet es. In der Luft hängen nicht nur die intensiven Kochgerüche und das Geklapper von Besteck und Geschirr. Wundervolle Musik, wie sie nur von einem Plattenspieler kommen kann, sucht sich vermutlich aus dem Wohnzimmer ihren Weg durch die weitläufige Altbauwohnung. Édith Piaf singt für uns, nicht zu laut, sondern gerade so, dass man noch eine anregende Unterhaltung führen kann.
Endlich treffe ich in der Küche auf Georg, der vor einem wunderschönen alten Bauerntisch steht und gerade eine Flasche Wein öffnet. „Bienvenue à la maison”, singt er mehr, als er es sagt, dabei macht er zwei Schritte auf mich zu und umarmt mich stürmisch. Vor Rührung über so viel Herzlichkeit kämpfe ich mit den Tränen, bringe kaum ein Wort heraus und finde Zuspruch in einem warmen Lächeln, das mir Simone über Georgs Schulter schickt. Mir ist klar, dass ich es bin, die die Umarmung mit meinem Gast- und Arbeitgeber nicht löst, doch keiner der beiden gibt mir das Gefühl, dass daran irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte.
„Willkommen zu Hause”, ich verstehe Georgs Worte und was viel wichtiger ist, alles hier fühlt sich auch so an. Tatsächlich wie ein Zuhause. Obwohl Simone sicher kaum mehr als eine Stunde fort war, küssen sich die beiden zur Begrüßung. „Es macht dir nichts aus, dass wir so spät essen?” Ich bin noch zu perplex, um zu antworten. Doch in den Gesichtern der beiden sehe ich, dass wir uns auch ohne Worte verstehen. Plötzlich halte ich ein Glas Rotwein in der Hand, wir stoßen an und ich koste von dem köstlichen Getränk. Es schmeckt beerig. Wieder denke ich, dass es eine Ewigkeit her sein muss, dass ich mich so wohl gefühlt habe. Dann spüre ich, wie mir der Bio-Wein zu Kopf steigt und ich wünsche mir, dass es nicht das letzte Glas sein wird in den kommenden zwei Wochen.